Impuls von Bischof Dr. Heiner Wilmer SCJ aus der NEUEN MITTE 02-2024
In einer Zeit, die von politischen Unruhen und sozialen Spannungen gezeichnet ist, stellt sich die Frage nach der Rolle des Christentums in der Gestaltung unserer Gesellschaftsordnung mit neuer Dringlichkeit. Das Christentum, tief verwurzelt in den Prinzipien von Liebe, Mitgefühl und der unbedingten Würde des Einzelnen, findet eine natürliche Entsprechung in den demokratischen Werten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Diese geteilten Grundwerte legen nahe, dass Christinnen und Christen nicht nur gute Demokratinnen und Demokraten sind, sondern auch eine aktive Rolle in der Stärkung demokratischer Strukturen spielen können und sollten.
In einem Interview mit Dr. Heiner Wilmer SCJ, Bischof von Hildesheim und Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz, versuchen wir die Verbindung zwischen christlichen Überzeugungen und demokratischen Idealen zu finden. Wir wollen erfahren, wie Christen ihre Werte im Alltag leben können, um nicht nur das gesellschaftliche Miteinander zu stärken, sondern auch ein Zeichen für die Bedeutung dieser tief verwurzelten Traditionen und Lehren in Zeiten globaler Unsicherheiten zu setzen.

Herr Bischof Dr. Wilmer, wie sehen Sie die Rolle des Christentums in der heutigen demokratischen Gesellschaftsordnung?
Das Christentum hat in der Gesellschaft seit jeher eine gestaltende Rolle. Das ist eine Herausforderung, gerade in diesen angespannten Zeiten. Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat aber gezeigt, dass Christinnen und Christen sich überproportional in der und für die Gesellschaft engagieren. So gelangt die Botschaft von der Liebe Gottes in jede Dimension unseres Lebens. Der Einsatz der vielen Menschen, der Frauen und Männer, der Älteren und Jüngeren, die sich so wunderbar einsetzen für die Anderen, für die Schöpfung, für diese Welt, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit. Wie sie den Geist Jesu leben, finde ich großartig.
Inwiefern können christliche Werte dazu beitragen, die Prinzipien der Demokratie zu stärken?
Die Demokratie gründet in Werten und Prinzipien, die das Christentum wesentlich vor- und mitgeprägt hat. Zuvorderst steht die Überzeugung, dass alle Menschen die gleiche, von Gott gegebene Würde haben und dass sie diese Würde nicht verlieren können. Im Grundgesetz ist festgeschrieben, dass selbst der Staat diese Würde nicht verletzen darf. Die Würde des Menschen ist die Grundlage, auf der beispielsweise Freiheit oder der Schutz von Minderheiten begründet wird. So ist sie der Mörtel, der das Bauwerk der Demokratie zusammenhält.
Wie können Christen ihrer Verantwortung als Bürger in einer Demokratie gerecht werden?
Das Leitwort des KKV beschreibt die christliche Verantwortung für die Demokratie gut: „Dem Menschen dienen“. Wenn wir das ernst nehmen, sind wir keine „Schönwetter-Christen“ und auch keine „Schönwetter-Demokraten“. „Dem Menschen dienen“ bedeutet, diese Überzeugung nicht nur in der Kirche oder an der Wahlurne zu leben, sondern in unseren Familien, im Beruf, in der Freizeit – praktisch in allen Lebenslagen. Das erfordert aber auch, dass wir klar benennen, wo wir unsere Demokratie gefährdet sehen und welche Haltungen wir als Christinnen und Christen nicht tolerieren. Wir deutschen Bischöfe haben das im Februar 2024 in der einstimmig verabschiedeten Erklärung „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“ getan. Der Glaube und die Demokratie brauchen Menschen, die ihre Überzeugung leben und Haltung zeigen.
Welche Bedeutung messen Sie dem Engagement in gemeinnützigen Organisationen bei, insbesondere im Hinblick auf die Förderung demokratischer Werte?
Gemeinnützige Organisationen praktizieren Solidarität und leben Demokratie. Der KKV engagiert sich zum Beispiel für die Befähigung von Menschen durch Weiterbildung oder durch die Pflege von Kontakten und die Erfahrung von Gemeinschaft. Das schätze ich sehr. In den katholischen Verbänden wird gemeinsam beraten und demokratisch entschieden. Dadurch wird Demokratie erfahrbar. Organisationen wie der KKV und die anderen Verbände helfen Menschen dabei, unsere Gesellschaft aus ihrer christlichen Überzeugung heraus solidarisch und demokratisch mitzugestalten.
Wie kann der Dialog zwischen unterschiedlichen Meinungen innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft aus christlicher Perspektive gefördert werden?
Für uns Christinnen und Christen ist es wichtig, andere Menschen als gleichwertige Gegenüber wahrzunehmen und – wo immer es möglich ist – den Dialog zu suchen. Das betont auch Papst Franziskus immer wieder: das gegenseitige Kennenlernen, das Hineinfühlen in den anderen Menschen. Gott liebt alle Menschen. Deswegen sollten wir unsere Sicht nicht absolut setzen: Zum Dialog gehört der Kompromiss, zum Streiten für die eigene Überzeugung die Suche nach gemeinsamen Wegen. Das fördert einen fruchtbaren Dialog in der Gesellschaft.
Welche konkreten Maßnahmen empfehlen Sie Christen, um aktiv zur Stärkung der Demokratie beizutragen?
Ich weiß nicht, ob engagierte Christinnen und Christen Empfehlungen benötigen oder ob es „vorgefertigte“ Maßnahmen gibt. Es ist wichtig, dass wir respektvoll miteinander umgehen. Als Christinnen und Christen sollten wir nicht „belehrend“ auftreten, sondern uns aufmerksam am Diskurs untereinander sowie mit Anders- und Nichtgläubigen beteiligen. Das heißt, einander zuzuhören, die eigene Position zu vertreten und das Verbindende zu suchen. So kann christliches Engagement für die Menschen die Demokratie stärken, unabhängig von deren religiöser Orientierung oder davon, was sie über die Kirche denken.
Wie kann die Kirche ihrerseits zur Förderung demokratischer Strukturen innerhalb und außerhalb ihrer Gemeinschaft beitragen?
In Rom findet im Oktober 2024 die nächste Phase der Synode zur Synodalität statt. Der Papst sagt immer wieder, dass Synodalität zum Wesen der Kirche gehöre, „in der Begegnung, im Einander-Zuhören und in der Unterscheidung“. In der demokratischen Gesellschaft ist das ebenso von Bedeutung: Wir sollten nicht übereinander reden, sondern einander begegnen und aufeinander hören. Über ihre eigene Gemeinschaft hinaus kann die Kirche zur Demokratie beitragen, indem sie Kontakte festigt und Brücken baut – mit anderen Konfessionen und Religionen, aber auch mit der säkularen Gesellschaft.
Abschließend: Welche Botschaft möchten Sie an Christen richten, die sich für die Bewahrung unserer demokratischen Grundordnung einsetzen wollen?
Es ist oft schwierig und bedarf eines „langen Atems“, sich im Sinne des Evangeliums für andere Menschen und für die Gemeinschaft zu engagieren. Das zieht sich durch die gesamte Kirchengeschichte. Immer wieder wird aber deutlich: Es lohnt sich und Gott steht uns bei! In allem dürfen wir stets auf Gott hoffen und uns ihm anvertrauen. So folge ich dem hl. Paulus, wenn ich engagierte Christinnen und Christen ermutige: „Freut euch in der Hoffnung, seid geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet!“ (Röm 12,12)
Unser Impulsgeber
Bischof Dr. Heiner Wilmer SCJ wurde am 9. April 1961 in Schapen im Emsland geboren und wuchs auf dem elterlichen Bauernhof auf. Geprägt hat ihn auch der Besuch des Gymnasiums Leoninum in Handrup, eine Schule der Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester.
Seine berufliche Reise begann mit dem Eintritt in die Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester, gefolgt von seiner Priesterweihe im Jahr 1987. Sein akademischer Werdegang führte ihn zu Studien in Rom und Freiburg. Nach seinem Lehramtsstudium unterrichtete Heiner Wilmer Geschichte und Religion in Deutschland und den USA und war später als Schulleiter tätig. Es folgte die Leitung der Provinz der Herz-Jesu-Priester in Deutschland. Ab 2015 war er Generaloberer seiner Ordensgemeinschaft mit Sitz in Rom.
Im April 2018 wurde Dr. Wilmer zum 71. Bischof von Hildesheim ernannt. Als Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz sowie der Deutschen Kommission Justitia et Pax ist ihm das Engagement für Gerechtigkeit und Frieden ein Herzensanliegen.

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