Impuls von Altbundespräsident Christian Wulff in der NEUEN MITTE 01-2024
In einer Zeit, in der politische Radikalität und Fremdenfeindlichkeit unsere Demokratie bedrohen, brauchen wir mehr denn je Führungspersönlichkeiten, die Brücken bauen, statt Gräben zu vertiefen. Einer dieser Impulsgeber ist Bundespräsident a. D. Christian Wulff, dessen Engagement für Integration und interreligiösen Dialog nach wie vor Maßstäbe setzt. In einem exklusiven Interview mit der NEUEN MITTE spricht er über seine Sicht auf die aktuellen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Christian Wulff war nicht nur das jüngste Staatsoberhaupt Deutschlands, sondern auch ein Präsident, der polarisierte – und inspirierte. Seine Amtszeit mag kurz gewesen sein, doch seine Botschaften hallen nach. „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, sagte er 2010 – ein Satz, der damals eine Debatte entfachte und heute aktueller denn je erscheint. Aber wie sieht es aus seiner Perspektive heute aus? Was hat sich verändert? Mit seinem unermüdlichen Einsatz für Toleranz und gegen Ausgrenzung gibt uns Christian Wulff wertvolle Denkanstöße. Er zeigt auf, dass Integration kein einseitiger Prozess ist und fordert von jedem Einzelnen einen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.

2010 prägten Sie in Ihrer Einheitsrede am 3. Oktober die Aussage: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Gerade aus der eigenen Partei – der CDU – bekamen Sie danach heftigen Gegenwind für diese Aussage. Würden Sie diesen Satz heute nochmals wiederholen und wie waren nach dieser Rede ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Thema Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit?
Der Satz hat nach wie vor Gültigkeit und ich sage ihn immer wieder. Er beschrieb damals die Realität, das tut er heute genauso noch. Aus ihm folgt, dass wir uns kümmern müssen, beispielsweise um die Ausbildung deutschsprachiger Imame und Religionslehrer auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Ich sagte diesen Satz damals auf dem Höhepunkt der Debatte über das Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“. Mein Versuch lag darin, die rassistische Debatte einzufangen und auf den Kern des Grundgesetzes hinzuführen. Jeder darf glauben und seinen Glauben auch ausüben.
Der Satz ist notwendiger denn je, denn die Gegner von Vielfalt, diejenigen, die sich gegen ein buntes Deutschland stellen, die Gegner von einem gleichberechtigten Zusammenleben mit Minderheiten sind mehr geworden. Wir sollten mit Vielfalt souverän umgehen, anstatt denjenigen das Feld zu überlassen, die damit Angst und Sorgen verbreiten. Als ich den Satz zum ersten Mal gesagt hatte, hat eine leichte Mehrheit ihn bejaht. Heute bejaht in wohl nur eine Minderheit.
In der Öffentlichkeit wird in Zusammenhang mit dem Islam oft negativ berichtet, das beeinflusst das Stimmungsbild, entspricht aber in der Regel kaum der Realität. Wir haben Musliminnen und Muslimen in allen Bereichen unseres Lebens und Alltags, in Krankenhäusern, in der Pflege, in den Apotheken, im Kindergarten oder der Schule, an den Universitäten, Wissenschaftseinrichtungen, in der Wirtschaft und Politik.
Ohne Zuwanderung hätten wir auch keinen mRNA Impfstoff von dem Ehepaar Sahin und Türeci, deren Eltern aus der Türkei nach Deutschland kamen. Im DFB hat heute jedes fünfte Mitglied eine Einwanderungsgeschichte. Auch Medien brauchen Menschen mit Migrationsbiografien wie Dunja Hayali, Ingo Zamperoni oder Aline Abboud – sie spiegeln die Wirklichkeit unserer Gesellschaft wider. Und viel zu selten wird erwähnt, dass immerhin 5000 muslimische Soldatinnen und Soldaten in unserer Bundeswehr dienen, sie riskieren ihr Leben für unsere Freiheit und Sicherheit. Davon hören wir selten etwas.
In Deutschland gehen heute wieder viele Menschen gegen rechtsradikale Bewegungen und Parteien auf die Straße. Hatten Sie gehofft, dass es zu einer solchen Bewegung kommt? Wie wichtig ist diese Entwicklung?
Der Impuls, auf die Straße zu gehen, um für unsere Demokratie und unsere Art zu leben einzustehen, ist enorm erfreulich. Ich hätte mir diesen Impuls schon früher gewünscht, damals als bekannt wurde, dass Mörder des NSU durch Deutschland fuhren und Menschen hinrichteten, nur weil sie in ihren Augen keine willkommenen Deutschen seien.
Die Demonstrationen sind wichtig und daraus muss etwas entstehen: Bürgerinnen und Bürger sollten nun alle auch wirklich für demokratische Parteien und für Europa stimmen, sich in Parteien engagieren und ihren Sachverstand einbringen. Ebenso müssen die demokratischen Parteien aktiver Bürgerinnen und Bürger einbinden. Wenn wir wollen, dass unsere Kinder und nachfolgende Generationen in Freiheit leben, so wie meine Generation es erleben durfte, dann müssen alle nun mehr Verantwortung wahrnehmen. Demokratie gestalten, statt konsumieren.
Worin sehen Sie die größten akuten Gefahren für unsere Demokratie?
Unsere Demokratie ist von außen durch jene gefährdet, die mit Repression und Unterdrückung reagieren, die internationale Vereinbarungen missachten und Macht statt Recht walten lassen wollen.
Die Demokratie ist aber auch von innen durch jene gefährdet, die sie zu lange als selbstverständlich und automatisch garantiert wahrgenommen haben. Dabei erinnere ich an den Satz, den die Widerstandskämpferin, Freya von Moltke, mir kurz vor ihrem Tod sagte: „Die Weimarer Republik ist letztlich untergegangen, weil die Deutschen das Gefühl verloren hatten, dass sie für ihre eigene Gesellschaft selbst verantwortlich sind.“
Was können oder müssen die demokratischen Parteien in Deutschland unternehmen, um gegen Politik- und Parteienfrust anzugehen und das System wieder zu stabilisieren?
Parteien müssen wieder attraktiver werden für die aktive Beteiligung von Menschen, die noch nicht in einer Partei mitgewirkt haben. Es muss Lust und Wille an Gestaltung und Mitwirkung vermittelt werden. Die Demokratie lebt von aktiven Demokratinnen und Demokraten – und das geschieht in demokratischen Parteien. Wichtig ist zudem, dass die Parteien im Inneren die Auseinandersetzung und die Diskussionen suchen müssen, damit nach außen die Einheit und Bestimmtheit in der Zielsetzung wirken kann. Menschen brauchen einen Anker, Halt und Visionen. Diese müssen Politikerinnen und Politiker entwickeln und möglichst viele Menschen für gemeinsame Ziele gewinnen. Nur gemeinsam begegnen wir den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft mit Kraft und Innovation.
Ich persönlich wünsche mir mehr christlich-soziale Sensibilität bei vielen Diskussionen, wie sie beispielsweise Werner Remmers und Norbert Blüm für mich verkörperten.
Wir brauchen auch neue Beteiligungsformen im Netz, um Menschen die Möglichkeit zu geben, Meinungen zu äußern.
Welche besondere Verantwortung haben wir als Christen in dieser Situation?
Ich erinnere gerne daran, dass es viele Christen waren, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges an der Idee Europa erfolgreich gearbeitet haben und einen großen Einfluss für das Gelingen hatten. Dazu zählten Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi aus Italien und Robert Schuman aus Frankreich. Christliche Demokraten hatten herausragende Rollen in den ersten europäischen Institutionen wie der EGKS, der EWG oder EURATOM. Das christliche Bewusstsein und unsere christliche Haltung sind an Nächstenliebe, Geschwisterlichkeit, Weltoffenheit und Toleranz orientiert, am Brückenbau.
Persönlichkeiten in der Geschichte wie Lech Walesa und der polnische Papst Johannes Paul II. haben enorme Wirkung mit der Kraft ihres Glaubens entfaltet und die deutsche und europäische Einigung friedlich erkämpft. Christen spielten auch eine wichtige Rolle bei der friedlichen Revolution in der DDR. Die Kirchen gaben Raum in den Montagsgebeten, die zu den mutigen Montagsdemonstrationen wurden.
Für Christen insbesondere, aber generell gilt für unsere Zivilgesellschaft, dass wir uns mit einer Bereitschaft für unser Gemeinwesen engagieren müssen, die beinhaltet, dass wir uns informieren, gesicherte Quellen dazu verwenden und mit Respekt für- und voreinander handeln. Im Christentum verankert ist auch die Ausrichtung am Gemeinwohl und nicht ausschließlich Partikularinteressen in den Mittelpunkt zu stellen. Eng damit verbunden sehe ich die Überzeugung von Christen, das Richtige zu tun, auch wenn es unpopulär ist. Es braucht Mut, die Wahrheit zu sagen und die Größe, anderslautende Meinungen auszuhalten.
Welche Aufgabe müssen die klassischen Medien in diesem Zusammenhang übernehmen und wie groß schätzen Sie das Potenzial, die Macht und die Gefahren der Sozialen Medien ein?
Journalistinnen und Journalisten haben die Aufgabe sachlich und objektiv zu informieren. Sie haben daher eine große Verantwortung inne. Das Funktionieren einer Demokratie setzt voraus, dass dessen Mitglieder über die Informationen verfügen, die sie benötigen, um sich auf rationale Weise eine eigene Meinung zu allen politischen Fragen bilden zu können.
Heutzutage ist diese Aufgabe um einiges schwieriger geworden als in der Vergangenheit. Das übersichtliche Feld der „Tagezeitungen und der klassischen Fernsehnachrichten am Abend hat sich aufgeteilt und konkurriert mit unzähligen vermeintlichen Informationsquellen und Nachrichtenportalen. Heute zählt die Klickzahl mehr als der inhaltliche Gehalt einer Nachricht. Jede und jeder bemüht sich um die reißerischste Schlagzeile, um im Aufmerksamkeitswettbewerb nicht unterzugehen. Die klassischen Medien haben neben der Informationsfunktion auch die Aufgabe, Missstände aufzudecken, kritisch zu berichten – das ist eine Art Kontrollfunktion. Das hat einen hohen Stabilitätseffekt für Demokratien, wenn die Funktionen angemessen ausgeübt werden.
Medien haben die Rolle von Vermittlern und Hütern. Soziale Medien haben eine zusätzliche Herausforderung mit sich gebracht: Jede und jeder kann einen Wahrheitsanspruch reklamieren und sich ihre oder seine eigene Welt zusammenbauen. Es entstanden viele ungefilterte Echokammern und Blasen, in denen sich Meinungen nur bestätigen und eine prüfende Instanz entfällt.
Die Digitalisierung und die Sozialen Medien haben viele positive Aspekte mit sich gebracht und in atemberaubender Weise die Kommunikation erleichtert und beschleunigt. Die Gefahren, die darin liegen, erkennen wir aber leider nur schrittweise und müssen uns diesen aber selbstbewusster stellen. Plattformen wie Telegram oder TikTok werden überwiegend von rechten Gruppen missbraucht, um deren Verschwörungstheorien oder Ideologien zu verbreiten, anzustacheln und Anhängerschaft zu finden. Von klein auf müssen wir darauf bedacht sein, dass der Umgang mit diesen neuen Medien besser geschult wird und eine kritische, prüfende Handhabung beigebracht wird.
Wir müssten darüber nachdenken, was das Lesen von Zeitungen und lesen von Büchern an Fortschritt und Diskussionskultur ausgemacht hat. Jyoti Guptara, englischer Schriftsteller, sagte es so: „Wenn Menschen aufhören zu lesen, dann hören sie auf zu denken, und wenn sie aufhören zu denken, werden sie anfällig für Manipulation. Führungskräfte sind Leser. Der Zusammenhang zwischen Lesen und Erfolg (persönlich und gesellschaftlich) kann nicht überbetont werden.“ Wir müssen die Funktion professioneller Journalisten ganz neu wertschätzen. Sie kuratieren für uns das Weltgeschehen. Sie bringen es mit ihren Namen in ihrer ganzen Vielfältigkeit rüber. Für die Darstellung des Weltgeschehens haften sie persönlich mit ihrem Wort und ihrem Ruf. Wir müssen uns diesen professionellen, ernsten Journalismus etwas kosten lassen. Unseren Kindern sollten wir ein Digitalabo schenken.
Wohl kaum zu einer anderen Zeit war die Diskrepanz der Mediennutzung – auch zur Information über das Tagesgeschehen – zwischen den Generationen so groß wie heute. Welche Gefahr birgt diese Entwicklung für die Demokratie?
Eine der größten Schwierigkeiten für die Demokratie ist, dass wir nicht mehr die gleiche Ausgangsbasis haben. Um gleichermaßen und ausgewogen an der Demokratie und dem politischen Geschehen mitwirken zu können, müssen alle daran Beteiligten über ähnliche Informationen verfügen. Anstelle der Nachrichtensendung im Fernsehen und der Tageszeitung treten heute aber mit Algorithmen auf uns zugeschnittene Informationsquellen. Das macht Dialog schwieriger, oft auch feindseliger. Es ist erfrischend, wenn vor allem junge Menschen neue Trends aufnehmen und entwickeln. Die Abgrenzung zwischen realer und virtueller Welt wird aber immer geringer, weil viele praktisch ununterbrochen online sind und mit allen verbunden sind. Es wird auch die Aufgabe der Medien sein, die Brücke zu schlagen und klassisches mit modernen Entwicklungen zu kombinieren.
Wie schaffen Sie es, Ihren 15-jährigen Sohn für diese Themen zu sensibilisieren und was sind die wichtigsten Punkte, die Sie ihm und vielleicht auch seinen Freundinnen und Freunden mit auf den Weg geben (können)?
Wir ergänzen uns gut: Ich erfahre von ihm und lerne, welche Plattformen und Medien seine Generation nutzt und zugleich orientiert er sich auch an klassischen Medien, die ich nutze. Gemeinsam Tagesschau oder Heute-Nachrichten zu schauen, wird für uns immer lästiger wegen der vorhersagenden Werbung. Dass ARD und ZDF hier aus finanziellen Interessen die Ansprache über 85-jährige Menschen schalten, zeigt uns, dass sie 15- bis 65-Jährige wenig ernst nehmen.
Der Generation meines Sohnes möchte ich mitgeben, den Wert von Tages- und Wochenzeitungen neu schätzen zu lernen, auch im digitalen Zeitalter. Beim Lesen einer Tageszeitung erfährt man viel über seine Umgebung bei den Vereinen, in der Kultur, im Sport. Und man erfährt sehr viel über seine eigenen Interessen und die Talente, die Gott uns mitgegeben hat.
Unser Impulsgeber
Christian Wulff, ehemaliger Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, trat sein Amt am 30. Juni 2010 an und bekleidete es bis zu seinem Rücktritt am 17. Februar 2012. Geboren 1959 in Osnabrück, erwarb Herr Wulff nach dem Abitur einen rechtswissenschaftlichen Abschluss mit wirtschaftlichem Schwerpunkt an der Universität Osnabrück und schloss sein zweites Staatsexamen nach einem Referendariat am Oberlandesgericht Oldenburg ab. Vor seiner politischen Karriere war er als Rechtsanwalt in Hannover tätig.
Seine politische Laufbahn innerhalb der CDU begann Herr Wulff im Jahr 1975, gefolgt von seiner Wahl in den Rat der Stadt Osnabrück im Jahr 1986. In den Jahren darauf übernahm er weitere Führungsrollen, unter anderem als Beigeordneter und Vorsitzender der CDU-Ratsfraktion. Nach einer Niederlage gegen Gerhard Schröder bei den Landtagswahlen 1994 wurde er Oppositionsführer und später, im Jahr 2003, Ministerpräsident von Niedersachsen.
Nach dem Rücktritt Horst Köhlers kandidierte Christian Wulff für das Amt des Bundespräsidenten und gewann die Wahl in der Bundesversammlung. Mit seinem Antritt als Bundespräsident legte er sein Mandat im Landtag und das Amt des Ministerpräsidenten nieder. Er zeichnete sich als jüngster Bundespräsident und als zweiter römisch-katholischer Amtsinhaber nach Heinrich Lübke aus.
Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt ist Christian Wulff weiterhin repräsentativ tätig und nimmt an Staatsakten sowie Zeremonien weltweit teil. Darüber hinaus engagiert er sich für soziale Projekte und Organisationen, etwa als Schirmherr der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft und als Präsident des Deutschen Chorverbands.

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